Rudolf Steiner und das Judentum

Neue Synagoge Berlin. Foto: Mika Baumeister/Unsplash

Rudolf Steiners Verhältnis zum Judentum hat viele Schattierungen. Als junger Autor hielt er das Judentum für überholt, später engagierte er sich in einer Zeitschrift zur Abwehr des Antisemitismus. Ein Gespräch mit Ralf Sonnenberg, der sich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt und darüber publiziert hat.

Herr Sonnenberg, Sie haben sich als Historiker und Religionswissenschaftler intensiv mit Rudolf Steiners Beurteilung des Judentums auseinandergesetzt. Steiner ist ja in jüngster Zeit vermehrt in die Kritik geraten. Könnten Sie versuchen, Rudolf Steiners Verhältnis zum Judentum mit einigen Federstrichen darzulegen?

Als Nichtjude verstehe ich von der jüdischen Religion mit ihren vielfältigen Traditionen und Lebensformen natürlich viel zu wenig. Im Rahmen meines Studiums und danach habe ich mich jedoch eingehend mit der Geschichte des Antisemitismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert und insbesondere mit der sehr wechselvollen deutsch-jüdischen Geschichte beschäftigt. Was Steiners Sicht des vorchristlichen Judentums angeht: Diese war, so mein Eindruck, von einer sehr großen Wertschätzung geprägt: Der gesamte Zivilisationsprozess beruhe, so Steiner, auf dem mentalen und ethischen Erbe der Patriarchen Abraham und Moses, die er als Initiierte, als Eingeweihte betrachtete. Im alten Hebräertum seien die ersten Keime für die Ichwerdung und Gewissensbildung veranlagt worden, welche gewissermaßen der europäisch-christlichen Bewusstseinsentwicklung als Matrix eingeschrieben sind – Fähigkeiten, welche heute die Ausgangsbasis für den Versuch bilden könnten, auf selbstständige Weise eine Freiheitsgestalt aus dem beobachtenden Mitvollzug des Wahrnehmungs- und Denkaktes im Sinne einer Philosophie der Freiheit, wie Steiners philosophische Hauptwerk lautet, zu errichten.

Demgegenüber nehmen sich seine spärlichen Kommentare zum zeitgenössischen Judentum, die angesichts eines Gesamtwerkes von über 80 000 Druckseiten quantitativ kaum ins Gewicht fallen, oft eindimensional, um nicht zu sagen: holzschnittartig aus. Insbesondere der junge Steiner griff auf zeittypische antijudaistische Begründungsmuster zurück und verwob sie mit seiner freiheitsphilosophischen Abneigung gegenüber „statutarischen“ Religionsformen, wie er sie im Judentum seiner Zeit, aber auch in den christlichen Konfessionen zu beobachten glaubte. Obwohl Steiner den Rassenantisemitismus völkischer Vordenker wie Adolf Bartels, Eugen Dühring oder Georg von Schönerer scharf kritisierte und sich um 1900 auch für den Berliner Verein zur Abwehr des Antisemitismus engagierte, argumentierte er, was die „historische Überholtheit“ des Judentums betrifft, ähnlich pauschal wie die meisten Philosophen der Aufklärung, zum Beispiel Kant, Fichte oder Hegel.

Es gibt aber auch problematische Äußerungen von ihm, oder?

Das „Judentum als solches“, vor allem aber der „Geist des Judentums“ seien antiquiert, in sich abgekapselt, ihr Erhalt sei ein „Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten“ – so die vor allem in der Schlussfolgerung bedenkliche Einschätzung Steiners in einer Rezension des Buches Homunkulus von Robert Hamerling aus dem Jahr 1888.

Dass innerhalb der westjüdischen Gemeinden des 19. Jahrhunderts allenthalben Reformbestrebungen einsetzten und das orthodoxe Judentum infolge der Haskala, der jüdischen Aufklärung, immer mehr an Boden verlor, scheint zumindest dem jungen Steiner entgangen zu sein. Auch unterschätzte er vor der Jahrhundertwende noch den Antisemitismus als politische Bewegung, deren Protagonisten er als „ungefährliche Leute“ mit einem Hang zum Infantilen beschrieb – und erblickte in den zionistischen Anführern Theodor Herzl und Max Nordau eine sehr viel größere Gefahr als in den Antisemiten.

Bei den Kommentaren Steiners, aber auch denen vieler anderer Autoren zum Ersten Basler Zionistenkongress im Jahr 1897 fällt auf, dass in ihnen mit keinem Wort auf die zur gleichen Zeit im zaristischen Russland stattfindenden Pogrome eingegangen wurde. Nach der Ermordung Alexanders II. im Jahr 1881 suchten diese die dort lebende jüdische Bevölkerung in regelmäßigen Wellen heim – und führten zu den ersten Auswanderungsbewegungen osteuropäischer Juden nach Erez Israel und in andere Weltteile. Die zeitgenössische, weitgehend einhellige Ablehnung des zionistischen Ideals, den seit Jahrhunderten verfolgten Juden eine „nationale Heimstätte“ zu bereiten, fällt aus heutiger Sicht ungewöhnlich harsch, um nicht zu sagen empathielos aus – selbst wenn man in Rechnung stellt, dass dieses Ansinnen unter den damaligen politischen Verhältnissen utopisch anmuten musste.

Nach 1900 und in den Folgejahren relativierte Steiner allerdings einige seiner Verdikte wieder, insofern sie die jüdische Kultur und Religion betrafen: So sprach er dem Diasporajudentum die spirituelle Aufgabe zu, mit seinem Festhalten am Monotheismus ein Gegengewicht zu der trinitarischen Auffassung christlicher Traditionen zu bilden, was die „Bedeutung des semitischen Impulses in der Welt“ ausmache und der „Gesamtharmonie der Menschheit“ diene, wie er sagte.

Zugleich leistete er praktizierenden Juden wie Hans Müller oder Hugo Bergman, die einen Kulturzionismus vertraten und sich für einen binationalen Staat Palästina einsetzten, wertvolle Hilfestellung dabei, das Verständnis der eigenen Herkunft durch entsprechende Kommentare zum Alten Testament und Meditationshinweise esoterisch zu vertiefen. Steiner achtete also bestimmte jüdische Traditionen wie die Thora oder kabbalistische Schriften wie den Sohar wegen ihres spirituellen Gehalts. Doch war er der Auffassung, dass ein Festhalten an einer genuin jüdischen Identität in der Gegenwart und insbesondere eine nationaljüdische Bewegung wie die zionistische überflüssig seien.

Und seine Äußerung zur Überlebtheit des Judentums aus dem Jahr 1888?

Von seiner Einschätzung, dass der Fortbestand des Judentums ein „Fehler der Weltgeschichte“ sei, hat Steiner zeit seines Lebens nie Abstand genommen. Noch in seinem autobiografischen Fragment Mein Lebensgang, erschienen 1925, rechtfertigte er sein frühes Verdikt über das zeitgenössische Judentum mit dem Hinweis: „… ich hatte ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus geurteilt; nichts Persönliches war in mein Urteil eingeflossen.“

Die Rezension des Homunkulus hatte bei Ladislaus Specht, einem assimilierten jüdischen Textilkaufmann, dessen Sohn Rudolf Steiner in seiner Wiener Zeit unterrichtete, für große Betroffenheit und Irritation gesorgt – wohl vor allem aufgrund der schillernden Semantik, die genügend Raum für antisemitische Lesarten bot, auch wenn sich der Verfasser im gleichen Atemzug von den Rassenantisemiten distanzierte und betonte, dass Europa die Juden brauche.

Kritisch ließe sich hier nachfragen, warum Steiner aber nicht gerade das Jüdischsein an sich, sofern dessen Repräsentanten das Universale im Besonderen und das Besondere im Universalen aufzusuchen bemüht waren, als eine Bereicherung des Kulturlebens wertete. Weshalb fiel sein Urteil über das zeitgenössische Judentum, dessen Vertreter mit überwältigender Mehrheit den Zionismus ablehnten und sich als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und somit eben nicht als Nationalreligiöse verstanden, so undifferenziert aus? Oder schwebte dem „Homunkulus“-Rezensenten in seinem Urteil über das „Judentum als solches“ nur das orthodoxe Judentum vor, das ja auch von liberalen Juden dieser Zeit zum Teil heftig kritisiert wurde? Diese Lesart wird auch von manchen Anthroposophen als Entlastungsargument ins Feld geführt. Sie überzeugt mich nicht. Ihr entgegen steht der Umstand, dass sowohl der junge „Homukulus“-Rezensent als auch sein späterer Interpret jedwede Trennschärfe in der historischen Einschätzung des Diasporajudentums vermissen lassen. Plausibler erscheint es mir hingegen, dass Steiner in seinem antijudaistischen Verdikt von 1888 eben doch sehr viel zeitabhängiger war, als es ihm selber bewusst gewesen sein dürfte. Um einen Vergleich zu bemühen: Die katholische Kirche mit ihren institutionalisierten, oft freiheitswidrigen Erscheinungsformen kritisierte Steiner ebenfalls – mir sind jedoch keine Äußerungen von seiner Seite bekannt, denen zufolge der Erhalt des Katholizismus ein „Fehler der Weltgeschichte“ sei und Katholiken sich bis zur Selbstaufgabe assimilieren sollten.

Woher rührt Ihr persönliches Interesse an dem Thema Judentum und Antisemitismus?
In meiner Jugend, in den 1980er-Jahren, war der Holocaust bereits Teil des Lehrplanes an staatlichen Schulen. Den Jahrzehnten nach der Verdrängung, die insbesondere von den Studierenden Ende der 1960er-Jahre angeprangert worden waren, folgte ein oft ehrliches Interesse an Aufarbeitung und Auseinandersetzung, auch an den Schulen. Wir lasen Passagen aus dem Tagebuch der Anne Frank und erfuhren von jüdischen Schicksalen und der Realhistorie des Nationalsozialismus nicht nur im Geschichtsunterricht. Manchen Schülern war das schon fast zu viel Aufklärungsarbeit, während andere – so wie ich – den Unterrichtsstoff förmlich in sich aufsogen. Eine Initialzündung bildete die ARD-Fernsehserie „Ein Stück Himmel“ (1982), die auf der Autobiografie der im Warschauer Ghetto überlebten Janina David beruhte. Das Schicksal dieses jüdischen Mädchens, das kurz vor Liquidierung des Ghettos in letzter Sekunde von katholischen Nonnen versteckt wurde, hinterließ in dem 14-Jährigen einen tiefen seelischen Eindruck.

Sie sind 1988 in Ihrer Heimatstadt Münster im Alter von 20 Jahren der Anthroposophischen Gesellschaft beigetreten. Gibt es ein Ereignis, das Ihr Interesse an der Anthroposophie hervorgerufen hat?

Mit 15 Jahren, als ich mich für westliche Esoterik zu interessieren anfing, stieß ich auf ein merkwürdiges Buch, Aus der Akasha-Chronik von Rudolf Steiner. Doch erst einige Jahre später war ich wirklich sicher, „Anthroposoph“ werden zu wollen. Mit dieser glasklaren Überzeugung bin ich dann ohne zu zögern in die Anthroposophische Gesellschaft eingetreten – sehr zur Verblüffung der meist sehr viel älteren Mitglieder, die gar nicht fassen konnten, wie ein junger Mann ohne jede Berührung mit diesem Milieu einen solchen Schritt wagen konnte. Im Nachhinein bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich mir den Zugang zur Anthroposophie ohne jede äußere Hilfestellung und persönliche Begegnung – quasi im Alleingang – freischaufeln musste.

Was wäre Ihrer Einschätzung nach heute die Aufgabe der Anthroposophie, gerade angesichts der Tatsache, dass sie mittlerweile in unterschiedlichen Kulturen und zahlreichen Ländern gelebt wird. Gibt es trotz aller Diversität etwas Gemeinsames, was Anthroposophen pflegen könnten?

Ja, es gibt meiner Ansicht nach etwas Gemeinsames, etwas, was eine Art Alleinstellungsmerkmal der Anthroposophie unter den spirituellen Weltanschauungen darstellt und zugleich ihre Aktualität unter Beweis stellen könnte, unabhängig davon, in welchem kulturellen, konfessionellen oder individuellen Kleid sie gelebt wird. Dies ist ihr Wissenschaftsanspruch und die daraus folgende Notwendigkeit, eigene Beobachtungen im Geistigen von angelesenen zu differenzieren. Das Anliegen, sich über jeden Schritt eigener Erkenntnisarbeit methodisch Rechenschaft abzulegen und Kriterien zur Unterscheidung von subjektivem Fürwahrhalten und objektiver Wahrheitsberührung zu entwickeln, unterscheidet die Anthroposophie gerade von den meisten Varianten einer eher traditionellen Spiritualität.

Ein modernes Haus lässt sich nur von unten nach oben bauen, nicht umgekehrt. Das Problem scheint mir nur, dass viele Anthroposophen gar nicht daran interessiert sind, dieser neuartigen Bewusstseinssituation Rechnung zu tragen – und ihre Beheimatung stattdessen in dem reichen Fundus anthroposophischer Offenbarungsinhalte suchen, statt sich mit den mental neu zur Verfügung stehenden Fähigkeiten einen eigenständigen und zugleich wissenschaftlichen Zugang zur Anthroposophie zu erobern. Auf dieses Dilemma machte übrigens schon vor mehr als einem Jahrhundert Carl Unger (1878–1929), der bedeutende Erkenntniswissenschaftler und persönliche Schüler Rudolf Steiners, welcher einer jüdischen Familie entstammte, aufmerksam: Er wies darauf hin, dass „die Pflege eines Gegenwartsbewusstseins“ als „eine unserer vornehmsten Aufgaben“ zu betrachten sei. Es sei notwendig, dass „wir ein genaues Bewusstsein dieser Gegenwart haben, dass wir das Charakteristische unserer Zeit erkennen und vor allem die Fähigkeiten, die wir heute schon haben, aufsuchen und entwickeln.“ Stattdessen, so die Kritik Ungers, „lassen wir diese Fähigkeiten brachliegen, indem wir mit unserem Bewusstsein in der Vergangenheit stehen, oder wir halten Ausschau nach neuen, künftigen Fähigkeiten, ehe wir imstande sind, die Gegenwart zu beherrschen.“ Er machte – wohlgemerkt: 1905! – den Fortbestand und das Gedeihen der Anthroposophie von der Überwindung ebendieser „theosophischen Kinderkrankheit“ abhängig.[1]

Mittlerweile hat sich diese „Kinderkrankheit“ aber zu einer Erwachsenenkrankheit mit ernsthaften Konsequenzen ausgewachsen. Steiners Generalverdikt über das zeitgenössische Judentum ließe sich somit ironischerweise auch auf Teile seiner heutigen Anhängerschaft anwenden: Die anthroposophische Bewegung, insofern ihre Vertreter Partikularinteressen zur Befriedigung privatspiritueller Anliegen verfolgen, die den Geist dieser Epoche mit Missachtung strafen oder ihm sogar entgegenstehen, ist ein Relikt der Vergangenheit. ///

Das Gespräch führte Udy Levi.

Ralf Sonnenberg, geboren 1968 in Münster, studierte in den 1990er-Jahren Neuere Geschichte, Religionswissenschaft und Philosophie in Marburg und Berlin. Von 2000 bis 2007 war er Redakteur der anthroposophischen Zeitschrift Die Drei. Seit 2010 arbeitet er als selbstständiger Wissenschaftslektor und Publizist.

Veröffentlichungen von Ralf Sonnenberg (Auswahl):

„… ein Fehler der Weltgeschichte“? – Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners

(Hrsg.): Anthroposophie und Judentum. Perspektiven einer Beziehung, Frankfurt a.M. 2009


[1] Carl Unger: Versuch einer positiv-apologetischen Erarbeitung anthroposophischer Geisteswissenschaft, Stuttgart 1966, S. 15.

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