Künstliche Intelligenz zwischen Wunschdenken und Wahnsinn

Foto: Gabriela Clara Marino / Unsplash

Eine grundlegende Auseinandersetzung über die Bedrohung durch KI, die frühen Warnungen von Joseph Weizenbaum und den Beitrag der Anthroposophie.

In den letzten Monaten war Künstliche Intelligenz (KI) in den Medien omnipräsent. Keine Chance, sich diesem Thema zu entziehen, denn die rasanten Entwicklungen auf diesem Gebiet bestimmen zunehmend auch den Alltag: angefangen von der schleichenden Integration von KI-Tools (wie Siri, Alexa und neuerdings ChatGPT) in gängige Betriebssysteme, Programme und Apps bis hin zu Entwicklungen im Hintergrund wie der Einrichtung eines digitalisierten, global vernetzten Gesundheitswesens. KI spielt eine Schlüsselrolle bei der Verschmelzung von physischer, digitaler und biologischer Welt, die von den Vordenkern der sogenannten „4. industriellen Revolution“ vorangetrieben wird und mit vielen Versprechungen aufwartet: Vom Sieg über den Welthunger über die Lösung der Umweltkrise bis hin zur Heilung von Krebs wird KI als ultimative Heilsbringerin gehandelt, auf die sich irrationale Hoffnungen und Wunschvorstellungen richten.

Natürlich kann KI in bestimmten Bereichen, wie zum Beispiel bei der Beurteilung von diagnostischen Bildern in der Medizin, bei der Auswertung von Wetterdaten oder der Erstellung von Medieninhalten sehr nützlich sein. KI ist aber kein Allheilmittel und keine universelle Lösung für die Probleme der Menschheit. Je mehr Menschen blindlings solchen ebenso verlockenden wie fantastischen Verheißungen erliegen, umso größer ist die Gefahr, dass die Menschheit als Ganzes sich immer tiefer in den Kult um die KI verstrickt. Von entscheidender Bedeutung ist es daher, einen nüchternen Blick auf die Triebkräfte dieser Entwicklung zu werfen und die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft zu erörtern. Dieser Beitrag ist eine kleine Anregung dazu, und die folgenden Punkte ein paar erste, vorläufige Gedanken.

  1. Profitausrichtung

Die treibende Kraft hinter der Entwicklung von KI ist hauptsächlich die Gewinnorientierung großer Unternehmen. Diese sind bestrebt, die KI voranzutreiben, weil sie und die gesamte Informationstechnologie-Branche davon profitieren. Der Wirtschaftsprüfungskonzern PricewaterhouseCoopers geht davon aus, dass bis 2030 das weltweite Bruttoinlandsprodukt (ca. 100 Billionen US-Dollar im Jahr 2022) allein durch den Einsatz von KI um 15,7 Billionen Dollar steigen wird. Konkurrenzkampf und die Jagd nach Gewinnen führen dazu, dass ethische Bedenken, soziale Verantwortung und Sicherheitsfragen in den Hintergrund geraten. Besonders besorgniserregend ist nach neuesten Berechnungen des Finanzdienstleisters Bloomberg das Risiko, dass die gesamte Menschheit durch KI ausgelöscht wird, das heißt, dass die Menschen auf diesem Planeten aussterben. Die Wahrscheinlichkeit für ein solches „extinction event“ durch unkontrollierten oder fehlerhaften Einsatz von KI-Technologien wird dabei auf drei Prozent in den nächsten 100 Jahren beziffert und ist damit um ein Vielfaches höher als die Bedrohungen durch Klimawandel, Pandemien oder andere Katastrophen zusammen.

  1. Weltmachtstreben

Die führende Rolle der USA in der KI-Entwicklung hat nicht nur weitreichende Auswirkungen auf die globale Technologielandschaft, vielmehr sichert ihr der technische Fortschritt auch politische und militärische Dominanz. Die USA werden alles dafür tun, um diese Vorherrschaft auszubauen und das Feld nicht anderen, ebenfalls nach Weltmacht strebenden Ländern zu überlassen. Auch dies wird dazu führen, dass KI-Systeme entwickelt werden, die nicht im besten Interesse der Menschheit operieren, sondern im Gegenteil lebenswichtige Sicherheitsaspekte vernachlässigen.

  1. Techno-Totalitarismus

Eine wachsende Abhängigkeit von KI in der Regierung, im Arbeitsleben, im Gesundheitswesen, in der sich unter dem Einfluss der Digitalisierung wandelnden Medienlandschaft und vielen anderen relevanten gesellschaftlichen Bereichen bewirkt, dass immer mehr Menschen bloße Empfänger von KI-Entscheidungen werden, die sie ausführen, ohne sie zu hinterfragen. Die Zusammenführung und Verarbeitung gigantischer Datenmengen („Big Data“) durch KI-Systeme in nahezu allen Lebensbereichen einschließlich der Medizin befördert die Entstehung eines allmächtigen Überwachungsstaates, ähnlich wie wir es bereits in einigen asiatischen Ländern beobachten können. Dabei geraten die Freiheit und die Autonomie des Einzelnen, menschliche Werte und Menschenrechte zunehmend in Gefahr.

  1. Der Mensch als Maschine

Die vielleicht bedrohlichste Entwicklung betrifft die spirituelle Dimension und besteht in der Verbreitung und Durchsetzung eines Menschenbildes, das den Menschen auf bestimmte physische Aspekte reduziert, ihn als Maschine oder Computer darstellt. KI-Systeme sind in der Lage, menschliche Aufgaben auf zum Teil beeindruckende Weise zu übernehmen. Wir dürfen uns jedoch davon nicht blenden lassen und sollten niemals vergessen, dass der Mensch mehr ist als ein Algorithmus, mehr als ein auf Handlungsvorschriften basierendes Programm. Menschliches Bewusstsein, Kreativität, Empathie, moralisches Urteilsvermögen und emotionale Intelligenz sind einzigartige Eigenschaften, die nicht von Maschinen reproduziert oder verwirklicht werden können. Wer den Menschen auf rein materielle und äußerliche Merkmale reduziert, blendet zentrale Aspekte aus. Dieses mechanistische Menschenbild macht den Weg frei zur Verschmelzung von Mensch und Maschine (Transhumanismus), ja zu einem vollständigen Umbau des Menschen beziehungsweise dessen Verwandlung in eine Maschine (Posthumanismus).

Weizenbaum als Prophet

Heute, wo die digitale Welt allgegenwärtig ist, erinnere ich mich dankbar an eine große humanistische Persönlichkeit, die frühzeitig die Chancen, aber eben auch die Gefahren der Computertechnologie und der KI erkannte und mutig vor blindem technologischem Fortschrittsglauben und technokratischen Allmachtsphantasien warnte. Joseph Weizenbaum (1923–2008), der bedeutende deutsch-amerikanische Computerforscher, war Pionier und Kritiker der KI-Forschung in einem. Ich durfte diesem rebellischen Genie noch kurz vor der Jahrtausendwende, im November 1999 bei einem Symposion über die digitale Revolution in Gesellschaft und Medizin begegnen.

Weizenbaum war seiner Zeit weit voraus, als er zwischen 1964 und 1966 am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) ein Programm namens ELIZA entwickelte. Diese Urahne von ChatGPT war im therapeutischen Bereich angesiedelt und so programmiert, dass sie eine Art Konversation führen konnte, bei der sie die Rolle eines einfühlsamen Psychotherapeuten einnahm. Weizenbaum schuf ELIZA, um zu demonstrieren, wie ein Computer Sprache verarbeiten kann, und die Rolle des Therapeuten, inspiriert von dem damals sehr angesagten Psychologen Carl R. Rogers, war mit einer gehörigen Prise Ironie versehen. Sein Programm wurde jedoch von vielen Nutzer:innen in seiner Funktion als Psychotherapeut ernst genommen und viele begannen, ELIZA ihre Herzen zu öffnen, dem Programm ihre innerste Geheimnisse anzuvertrauen. Psychiater – es waren damals tatsächlich nur Männer – zeigten sogar ernsthaftes Interesse an der Verwendung von ELIZA in Kliniken. Von diesen Reaktionen war Weizenbaum so schockiert, dass er von „Saulus zum Paulus“, das heißt von einem Pionier zu einem der radikalsten Kritiker der Computertechnologie wurde, der fortan unermüdlich vor einer „Diktatur der Technik“ warnte, wie es im Untertitel seines Bestsellers Kurs auf den Eisberg (1987) heißt. Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, sieht man daran, dass ein solcher Ketzer, der heute vermutlich als Querdenker abgestempelt würde, damals noch mit Würdigungen überhäuft, sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde und breite Resonanz in den Medien fand.

„Gefährlicher Größenwahn“ und der Beitrag der Anthroposophie

Zurück zu der Veranstaltung im Spätherbst 1999 und zu meinem Zusammentreffen mit Joseph Weizenbaum. Diese Begegnung öffnete mir frühzeitig die Augen für die wahre Natur der Künstlichen Intelligenz. Und genau darum geht es mir in diesem Artikel: um die spirituelle Frage nach dem Menschenbild im Zeitalter der KI. In einem privaten Pausengespräch fragte ich Weizenbaum nach der Weltanschauung, die hinter der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz stehe, und wo man darüber etwas nachlesen könnte. Ich hatte damals Bücher von Marvin Minsky, Hans Morawec, Ray Kurzweil und anderen Pionieren der KI studiert, war aber unbefriedigt, weil sie nicht offen über ihre philosophischen Grundlagen, über ihr Menschenbild reflektierten. Weizenbaum antwortete auf die ihm eigene direkte Art, ich müsse diese Bücher nicht lesen, das sei reine Zeitverschwendung. In diesem Falle würde ein einziger Satz genügen, um zu verstehen, was hinter der KI-Entwicklung durch seine Kollegen am MIT, namentlich Marvin Minsky stehe. Und er zitierte Minsky, der gesagt habe, das Gehirn sei lediglich eine „meat machine“ (eine „Maschine aus Fleisch“), wobei im Unterschied zu „flesh“ für belebtes Fleisch das englische Wort „meat“ bedeute, es handele sich um totes Fleisch wie beim Metzger, mit dem man machen könne, was man wolle. In diesem Statement Minskys käme nicht nur eine Verachtung für das Leben als solches zum Ausdruck, also das Gegenteil dessen, was Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“ nannte, sondern auch eine Absage an Begriffe wie Menschenwürde, Autonomie und Freiheit, welche unverzichtbar für den Fortbestand der Zivilisation seien. Viele von Weizenbaums ehemaligen Kollegen in der KI-Forschung und ein wachsender Teil der Öffentlichkeit würden glauben, dass es möglich sei, einen künstlichen Menschen mithilfe von Computertechnik zu erschaffen. Für Weizenbaum war dies nicht nur menschenverachtend, sondern auch eine gefährliche Form von Größenwahn. Heutzutage erliegen mehr und mehr Menschen dieser Wahnvorstellung und haben ein zunehmend mechanistisches Bild von sich und der Welt.

Abschließend sei hier gefragt, was für einen Beitrag die Anthroposophie im Zeitalter der KI und der transhumanistischen Transformation im Sinne der „4. Industriellen Revolution“ leisten könne. Ich meine, die aktuellen Umwälzungen sollten Anlass sein, dass sich die Anthroposophie auf ihre Kernaufgabe besinnt. Anthroposophie hat primär keine politische, sondern eine spirituelle Mission. Diese besteht darin, die Weiterentwicklung des menschlichen Bewusstseins zu fördern. In der heutigen Zeit mit ihren atemberaubenden Fortschritten im Bereich der KI gewinnt diese Aufgabe massiv an Bedeutung. Denn mit jeder geistigen Arbeit, die wir den Maschinen übertragen, gehen menschliche Bewusstseinsfähigkeiten und Kompetenzen verloren. Ähnlich wie körperliche Funktionen verkümmern, wenn wir sie nicht mehr gebrauchen, droht auch das menschliche Bewusstsein zu verkümmern. Hier bietet die Anthroposophie in Verbindung mit den lebendigen spirituellen Strömungen der Welt eine Vielfalt von Möglichkeiten zum spirituellen Training und zum persönlichen geistigen Wachstum an, sowie Perspektiven für die Entwicklung eines neuen, erweiterten Bewusstseins auf allen denkbaren Gebieten von der Landwirtschaft bis zur Medizin, die heute wertvoller, zugleich aber auch bedrohter sind als jemals zuvor. ///

Ein Beitrag aus der Ausgabe September 2023 der Zeitschrift Info3.

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Über den Autor / die Autorin

Frank Meyer

Dr. med. Frank Meyer ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren, Akupunktur. Niedergelassen als Anthroposophischer Hausarzt in Nürnberg. Seminar- und Vortragstätigkeiten, Bücher und Artikel in Fach- und Publikumszeitschriften zu den Schwerpunkten Selbstregulation, Integrative Medizin und Naturheilverfahren.

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