Klimawandel: Atmosphärisch denken lernen

Bei der Klimakrise wird in der Regel ein wesentlicher, innerer Aspekt übersehen: Die Erde leidet an der gleichen Verkapselung wie wir Menschen, sagt der Buchautor Stefan Ruf. Was uns Menschen hindert zu fühlen, führt in der Atmosphäre zum Hitzestau. Deshalb braucht es einen Bewusstseinswandel.

Stefan Ruf, wir wissen so viel über die Ursachen der Klimakrise, die Staatengemeinschaft hat sich bereits 2015 auf Ziele zur CO2-Reduktion geeinigt, inzwischen gehen viele Menschen für eine andere Klimapolitik auf die Straße – trotzdem passiert als Konsequenz fast gar nichts. Sie gehen nun an dieses Problem nicht als Klimaforscher heran, sondern als Psychotherapeut und befassen sich in Ihrem Buch mit den Blockaden, die uns am Handeln hindern. Einzelne Menschen, aber offenbar auch wir als Menschheit stecken in bestimmten Verhaltensmustern fest, sagen Sie. Was hat es damit auf sich?

Aus meiner Sicht ähnelt unser Umgang mit der ökologischen Krise, deren Grundproblematik ja in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten bekannt ist, Verhaltensweisen, wie man sie aus der individuellen Psychologie und Psychotherapie gut kennt: Man weiß eigentlich was richtig ist, aber man handelt nicht so und findet irgendwie auch ganz gute Gründe dafür. Das können eher kleinere Probleme sein: dass man merkt, wie wichtig der tägliche Spaziergang wäre oder eine Meditation, aber es kommt fast immer was dazwischen. Oder es kann spektakulärer sein: Die Frau, die sich von ihrem alkoholkranken Mann, der sie schlägt, nicht trennen kann, obwohl sie weiß, dass es total sinnlos ist, an der Beziehung festzuhalten. In den letzten Jahren hat man in der Psychotherapie immer besser verstanden, warum das so ist. Das, was verhindert, zu tun, was eigentlich vernünftig wäre, ist ein altes Muster, ein altes Schema in uns, das immer wieder aktiviert wird. Und ein Schema besteht aus weit mehr als nur aus Gedanken. Es sind auch alte Gefühle und Körperempfindungen dabei, die sich in Kindheitssituationen gebildet haben. Ist das Schema aktiv, fühlt sich die Welt plötzlich buchstäblich anders an, weil sie von der Vergangenheit verzerrt ist. Aber man merkt es nicht. Weil eine sehr bekannte vergangene Seite in einem übernommen hat. Und die scheint sehr stimmig und vertraut. Die „verzerrte Welt“ ist also die vertraute.

Und was hat das mit unserer heutigen Situation zu tun?

Ich glaube, dass sich in uns westlichen Menschen – und mittlerweile gehört die Mehrheit der Menschen auf allen Kontinenten dazu – in den letzten 500 Jahren ein Erlebensschema gebildet hat, dass ich das Schema der Moderne nenne. Es führt zu einer verzerrten Wahrnehmung, was unsere Stellung hier auf der Erde anbelangt; als hätte unser Tun nicht Konsequenzen für sie. Und als hätten ihre Reaktionen nicht Konsequenzen für uns. So, als wären wir letztlich unabhängig von ihr: oder maximal so, wie man von seinem „Raumschiff“ abhängig wäre. Dabei ist die Erde ein Lebewesen, dessen Teil wir sind und mit dem wir wechselwirken. Aber wir fühlen und empfinden uns als separiert von ihr, obwohl wir vom Kopf her langsam verstehen, dass das nicht stimmt. Aber der Kopf, das Denken, kommt da nicht richtig gegen an, weil es sich nicht so anfühlt. Und das führt zu der gegenwärtigen Situation, wie Sie sie geschildert haben.

Wie ist dieses Schema historisch entstanden?

Das kann ich hier natürlich nur anreißen. Aber seine Entstehung beginnt mit der Renaissance, mit dem Beginn der Neuzeit. Und erstaunlicherweise fand damals – Steiner, Gebser und Sloterdijk beschreiben das sehr gut – ein ganz neues Bewusstsein, ein neues Erleben statt: wie man sich auf der Erde erlebte, wie man die Erde erlebte. Die alten Sphären, die Planetensphären, der Fixsternhimmel, aber auch die göttlichen Sphären dahinter, sie alle „verdämmerten“. Zuvor hatte man sich eingebettet und umhüllt gefühlt von einer höheren Ordnung, der man Folge zu leisten hatte. Das änderte sich in den Jahrhunderten nach Kopernikus immer mehr. Der Mensch wurde plötzlich frei und unabhängig – aber auch sehr einsam und isoliert. Und das hatte erstaunlicherweise etwas mit einer anderen Sicht der Atmosphäre, „des Sphärischen“, zu tun.

Und was genau hat dieses Schema der Moderne an Verhalten in uns verankert?

Zunächst durchaus Positives: es ist ja auch für Individuation und Selbständigkeit verantwortlich. Es hat also zu einer stärkeren Eigenständigkeit geführt. Damit gehen aber negative Qualitäten wie Abgetrenntheits- und Isolationsempfinden einher. Wir erleben auf der einen Seite Freiheit, aber nicht, dass unser Verhalten vernetzt ist und in Wechselwirkung mit allem steht: Was wir tun, hat Folgen. Weil wir uns aber von der Welt entkoppelt haben, führt das zu einer Verzerrung der Realität. Wenn ich fliege, wenn ich Auto fahre, wenn ich als Landwirt Gift auf die Flächen kippe, wenn ich konsumiere ohne Nachdenken, dann kann ich, weil ich mich so abgetrennt erlebe, die Folgen ausblenden. Ich muss mich für die Konsequenzen nicht verantwortlich fühlen, weil ich sie eben nicht fühle. Wir spalten die Folgen unseres Tuns einfach ab. Das aktivierte Schema in uns spaltet sie ab.

Das Schema der Moderne bedeutet also: Ich bin abgesondert von der Welt und kann mit der Welt machen, was ich für richtig halte, bin aber für alle Rückwirkungen immun?

So ist es. Diese Abgetrenntheit hat historisch gesehen zu einer eigentlich wünschenswerten Entwicklung zur Freiheit geführt. Aktuell aber werden wir täglich mehr mit den Schattenseiten konfrontiert, mit den Folgen einer verzerrten Wahrnehmung, zu der dieses Schema führt: Ich kann kaum noch wegschauen, so wenig wie die von ihrem alkoholkranken Ehemann misshandelte Frau die blauen Flecken an ihrem Körper übersehen kann. Und immer mehr Menschen fühlen auch die eigentlich angemessenen Gefühle von Verzweiflung, die sich einstellen, wenn man hinschaut. Aber die meisten von uns machen dann schnell wieder dicht. Wir verkapseln uns wieder, verkopfen, finden gute Gründe, warum nicht mehr geht und werden damit paradoxerweise total irrational.

Die Verzweiflung ist also entscheidend?

Solange ich die Verzweiflung nicht zulasse, werde ich auch nichts verändern. Das ist in der individuellen Psychologie genauso. In den meisten Fällen kommt es zu tieferen Veränderungen aus einer verfahrenen Lebenslage nur dann, wenn wir eindeutig spüren, dass es so nicht weitergeht. Insofern ist die Verzweiflung eine zentrale Triebfeder. Dazu muss aber die Fähigkeit kommen, die Verzweiflung auch zu tragen, damit sie nicht in eine völlige Hilflosigkeit bis hin zur Depression führt.

Es geht also um eine Art von gesunder Verzweiflung, die unsere Abkapselung als Subjekt aufbrechen kann?

Ja! Das erlebe ich in meiner täglichen Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen immer wieder und ich bin überzeugt, dass auch für uns als Gesellschaft der Weg so gehen muss. Und zu ganz neuen und kreativen Antworten führen kann – wie er das im Individuellen auch immer tut. Man muss nur erstmal Verantwortung übernehmen, bevor man antworten kann.

Sie sagen in Ihrem Buch, dass wir mit dem Aufbrechen der Verkapselung auch lernen, in der Welt wieder etwas mit uns Verwandtes zu sehen, dass also Geist, Bewusstsein und Gefühl nicht nur subjektiv in uns leben, sondern auch wirkende Elemente in den Dingen und Wesen sind.

Im Ansatz kennen wir das ja alles bereits, jeder von uns hat Erlebnisse, wo wir spüren, mit der Welt in Resonanz zu stehen, im Wald, am Meer, bei Begegnungen mit Tieren und Pflanzen, wo wir das Gefühl haben, dass die Natur zu uns spricht – es wird nur immer wieder abgeblockt.

Wenn wir auf die Gegenwart schauen, dann gilt: Die Natur, die Erde spricht nicht nur, sie schreit geradezu. Müssen wir uns für dieses Schreien, das Leiden der Natur öffnen?

Ich bin überzeugt, dass eines der Hindernisse für eine vertiefte Wahrnehmung nicht nur das Vermeiden unserer eigenen Verzweiflung ist, sondern auch die Angst davor, das Stöhnen der Kreatur zu hören, von dem schon Paulus sprach. Wir haben Angst, mehr von diesen bereits angerichteten traumatischen Entwicklungen in der Natur wirklich zu spüren. Dann würden wir nämlich sehen, dass die äußeren Verwundungen auch innere Verwundungen sind. Das muss man tragen können und wollen. Aber ich glaube zutiefst, dass es letztlich leichter ist, es zu tragen, als es wegzudrücken.

Ihr Buch spricht davon, dass es darum geht, regelrechte Organe für eine vertiefte Wahrnehmung der Natur zu entwickeln. Und sehr konkret nehmen Sie dazu als Ausgangspunkt genau das, was ja im Mittelpunkt der derzeitigen Krise steht: das Klima. Sie sagen, wir müssen konkret ein „fühlendes Bewusstsein“ von Atmosphäre entwickeln, unser Fühlen in diese Richtung erweitern. Das bedeutet also auch über ein rein naturwissenschaftliches Verständnis hinaus?

Je länger ich mich mit dem Phänomen der Atmosphäre beschäftigt habe, umso mehr entstand auch der Eindruck, dass genau da, wo sich die Katastrophe abspielt – in der Atmosphäre, genauer gesagt in der Grenzregion zwischen Troposphäre und Stratosphäre über uns, wo sich der CO2-Gehalt immer mehr konzentriert und zum Treibhauseffekt führt – dass also gerade da, wo die Krise sich vollzieht, auch das Rettende liegt: indem wir uns bewusster werden, was Atmosphäre eigentlich bedeutet. Das kann zunächst rein naturwissenschaftlich und phänomenologisch anfangen, denn das Bewusstsein für das, was Atmosphäre ausmacht, ist eigentlich noch kaum vorhanden.

Ich dachte, wir kennen den Begriff alle?

Fangen wir doch mal mit der Frage an: Ist damit die Grenze gemeint, die die lebensfähige Schicht unseres Planeten abschließt, oder der Raum darunter?

Ich denke bei Atmosphäre eher an den begrenzten Raum.

Aber wo genau verläuft die Grenze, die ihn begrenzt? Bei genauerem Hinsehen ist es gar keine eindeutige Grenze, sondern es sind unterschiedliche und elastische Schichten, die teilweise schon fast immateriell sind – und doch entscheidend für Eigenschaften wie Schutz vor Strahlung und Meteoriteneinschlägen. Wir brauchen ja auch den Treibhauseffekt bis zu einem gewissen Grad, damit überhaupt ausreichend Wärme auf der Erde für die Entwicklung von Leben vorhanden ist. Aber durch die gewaltige Freisetzung von CO2 in den letzten rund 150 Jahren ist diese Grenze dichter geworden, als es gut ist. Auch hier hat eine Verkapselung stattgefunden – die Erde als Lebewesen leidet also unter denselben Symptomen wie wir modernen Menschen.
Das Erstaunliche an uns ist jedoch, dass wir üblicherweise die Grenze über uns gar nicht wahrnehmen. Wir empfinden uns aufrechtstehend auf dem Erdboden und blicken exzentrisch ins Weltall, als gäbe es nichts mehr über uns. Wir erleben diese Atmosphärengrenze um uns herum als solche gar nicht. Und noch weniger erleben wir, dass wir in dieser Atmosphäre nicht nur Empfangende sind, sondern auch Erzeugende. Wir alle schaffen Atmosphäre, wir Menschen so wie alles Lebendige: das Sauerstoffatom, die Blaualge, das Great Barrier Reef, die Milchkuh auf der Wiese, Sie, ich. Wir alle bilden Atmosphäre.

Und wir nehmen das alles ungefragt und naiv hin; aber diese Atmosphäre ist in Jahrmillionen entstanden als dieses zarte, lebensermöglichende Band der Erde, und in wenigen Jahrzehnten haben wir nun als Menschheit im Zuge der weltweiten Industrialisierung massiv in diese Schicht eingegriffen!

Atmosphäre ist der Raum, der zwischen zwei gekrümmten Flächen entsteht; die eine ist der Erdboden, die andere ist die Grenzregion unseres Planeten zwischen Troposphäre und Stratosphäre, zwischen zwölf und sechszehn Kilometern über uns. Und in diesen gekrümmten Raum haben wir seit Beginn der Industrialisierung etwa zwei Billionen Tonnen CO2 umgelagert, die über Millionen von Jahren in der Erde eingelagert und gebunden waren in fossiler Form. Und heute werden allein 15 Milliarden Liter Öl jeden Tag verbrannt und wir belasten die Atmosphäre weiterhin im Jahr mit 40 Milliarden Tonnen CO2 weltweit.

Und wie kommen wir nun aus diesem Verhalten raus?

Meine These ist: Nur wenn wir beginnen, sphärisch zu denken, werden wir beziehungsfähig zur Atmosphäre, und indem wir beziehungsfähig werden zur Atmosphäre, haben wir eine Chance, wirklich global zu fühlen. Denn sie verbindet uns alle. Wir bilden also zusammen an diesem Raum. An diesem Raum, der zwischen zwei gekrümmten Sphären entsteht – jede Sekunde neu. 

Dieses Grundphänomen des Atmosphärischen ist nun nicht allein im klimatechnischen Sinne zu verstehen, sondern wir leben auch in anderen Beziehungen atmosphärisch. Ich unterscheide zwischen drei Typen von Atmosphären: Die größte ist natürlich die erdumfassende Atmosphäre, die Makrosphäre. Dann aber bildet jeder und jede von uns auch eine Atmosphäre mit sich selbst, eine Mikrosphäre, in der man sich begegnet; und wir bilden schließlich in jeder Begegnung mit einem anderen Lebewesen, sei es ein anderer Mensch oder mit anderen Wesen, eine Atmosphäre des Dazwischen, eine Mesosphäre.

Ist das vielleicht eine Art Dialektik, dass an dem gleichen Punkt, wo sich die Krise konzentriert, auch der mögliche Umschlagspunkt liegt, indem wir Atmosphäre tiefer zu verstehen anfangen?

Genau. So wie die Klimakrise historisch mit der zunehmenden inneren Verkapselung begann und dann zu einer zu starken Abkapselung in der Atmosphäre geführt hat, könnte uns nun das entstehende Bewusstsein des Sphärischen helfen, sowohl im Innerseelischen wie auch in der Begegnung aus der Verkapselung rauszukommen, indem wir den Atmosphärengedanken in diese Dimensionen erweitern.

Bedeutet das vielleicht auch, dass die Klimakrise eine Herausforderung darstellt, dass wir Menschen über unsere Rolle auf der Erde noch einmal neu nachdenken? Ich frage das auch, weil im Zuge der Klimadebatte ja nicht selten gesagt wird: Die Erde braucht uns Menschen nicht, wir richten nur Schaden an, und wenn wir zugrunde gehen, dann wird die Natur schon ohne den Menschen weiterbestehen, vielleicht sogar besser. Kann man in Zeiten der Klimakrise noch etwas Positives über den Menschen sagen?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir Menschen ein ganz wichtiger Bestandteil der kosmischen Evolution sind und auch ein essenzieller Bestandteil der Entwicklung auf der Erde. Vielleicht war das, was wir an Eingriffen in die Ökologie auf der Erde angerichtet haben, sogar unvermeidbar. Ich bin aber auch überzeugt, dass wir der ökologischen Krise, die ja auch eine soziale Krise ist, nur etwas entgegenstellen können durch eine spirituelle Weiterentwicklung. Insofern gehört zur Ausbildung eines atmosphärischen Bewusstseins ein innerer Shift, den verschiedene Denker mit verschiedenen Bewusstseinsmodellen ja auch schon beschrieben haben: Gebser spricht vom Integralen Bewusstsein, Wilber greift diesen Terminus auf und spricht auch vom Zentaurischen Bewusstsein, Steiner spricht von der Bewusstseinseele, also einer höheren Form der Bewusstheit. Die Wahrnehmungsfähigkeit für innere Prozesse, die zur Überwindung unserer Verkapselung führen können, ist für mich nur in dieser Richtung möglich. Es geht darum, eine neue, globale Beziehungsfähigkeit auszubilden, wie sie zuvor noch nie da war, welche die Natur und die Atmosphäre umfasst. Und das können nur wir Menschen, das ist unsere Aufgabe. Und das Organ in uns – so hätte Goethe das genannt – ist schon angelegt. Wir müssen es jetzt „nur“ noch ausbilden. Da stehen wir buchstäblich an einer kosmischen Schwelle. ///

Das Interview führte Jens Heisterkamp.

Dr. med. Stefan Ruf ist Facharzt für Psychosomatik/Psychotherapie und therapeutischer Leiter der Mänder Jugendhilfe in Potsdam.

Buchtipp: Stefan Ruf,  Klimapsychologie. Atmosphärisches Bewusstsein als Weg aus der Klimakrise, 280 Seiten mit farbigen Abbildungen, €19,90.

Über den Autor / die Autorin

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