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Jilet Ayse: „Integrationsalbtraum zum Anfassen“

Idil Baydar als Jilet Ayse © XAMAX
Idil Baydar als Jilet Ayse © XAMAX

Ihre Kunstfigur, die Deutsch-Türkin Jilet Ayse, pöbelt auf YouTube gegen die deutschen „Kartoffeln“. Laura Krautkrämer hat mit Idil Baydar gesprochen.

Sie erfüllt munter ein Klischee nach dem anderen – doch genau diese Klischees will ihre Schöpferin Idil Baydar aufbrechen. Eine Begegnung mit der ehemaligen Waldorfschülerin, in deren Biografie die Frage nach der kulturellen Identität einen zentralen Platz einnimmt.

Der Kontrast könnte kaum größer sein: Gerade eben hat mich noch Jilet Ayse aus Kreuzberg auf YouTube angeschrien – hochtoupierte Haare, riesige Ohrringe, Jogginganzug –, jetzt steige ich die Treppe in einem Bürogebäude an der Frankfurter Hauptwache hoch, oben öffnet sich die Tür und Jilets Schöpferin und Darstellerin Idil Baydar steht mir gegenüber. Eine kräftige, präsente Frau; ganz in Schwarz gekleidet, die Haare zurückgebunden, ein offenes Lächeln im Gesicht.

Seit 2011 sorgt Idil Baydar mit ihrer satirischen Kunstfigur, der pöbelnden Deutsch-Türkin Jilet Ayse, auf YouTube, auf Kleinkunst-Bühnen und auch im Fernsehen für Furore. In schönstem Kanak Sprak, dem Jargon vor allem türkischstämmiger Einwandererkinder der zweiten oder dritten Generation  („isch schwör – verstehss du wassisch mein?“), lässt sie ihren Gedanken freien Lauf: über das Zusammenleben von Deutschen und Türken, über Hartz IV, über die sinkenden Geburtenraten oder die verweichlichende Erziehung der deutschen „Kartoffeln“ – ein fleischgewordenes Klischee. Das kommt nicht überall gut an und wird vor allem nicht von jedem verstanden, wie zahlreiche Online-Kommentare unter ihren Videos beweisen, wo sich AfD-Wähler darüber auslassen, dass sie „wegen sowas“ schließlich gegen Ausländer seien. Soviel steht fest: Jilet Ayse, von Idil Baydar selbst als „Integrationsalbtraum zum Anfassen“ bezeichnet, polarisiert.

Zuhause in der Waldorf-Welt

Abgesehen davon, dass ich zu denjenigen gehöre, die mit ihrem Humor etwas anfangen können und über Jilets freche Tiraden oftmals Tränen lache, wurde ich neugierig auf ihre Erfinderin, als ich vor einiger Zeit las, dass Idil Baydar eine ehemalige Waldorfschülerin ist. Ihre eigene Kindheit und Sozialisation verlief denkbar weit entfernt von der Jilets, zudem engagiert sie sich seit vielen Jahren in sozialen Bildungsprojekten für Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien – was ist das also für eine Frau, die da irgendwo hinter der hochtoupierten Jilet steckt?

Geboren 1975 in Celle als Tochter türkischer Einwanderer, wuchs Idil Baydar bei ihrer alleinerziehenden Mutter in Celle auf. Mit zehn Jahren wechselte sie auf das Internat der Waldorfschule Benefeld in der Lüneburger Heide – eine Entscheidung, die ihr weiteres Leben geprägt hat, wie die Schauspielerin meint: „Ich zehre heute noch von meiner Zeit in der Waldorfschule. Ich wurde so genährt, dass es für vier Leben reicht!“. Dabei war Idil wohl schon damals ein ziemlicher Feger und tat sich mit dem klar durchstrukturierten Schulalltag durchaus schwer. „Ich habe meine Mutter genervt – ich wollte raus! Immer nur Regeln, ich hasste das Flötenspielen. Doch im Rückblick sehe ich, wie viel Substanz ich mitgenommen habe, wie sehr man an mich geglaubt hat.“

Die Entscheidung für die Waldorfschule traf ihre Mutter, die eine außerordentlich dynamische und zielstrebige Frau sein muss, wenn man Idil so hört. „Meine Mutter hat sich in dieser Waldorf-Welt sofort zu Hause gefühlt. Sie kam ohne höheren Bildungsabschluss nach Deutschland, aber sie hat immer viel gelesen. Das war ein wichtiger Teil von ihr, und das hat auch mich stark geprägt.“ Sie arbeitete zunächst als Gastarbeiterin bei Telefunken, bildete sich dann zur Maskenbildnerin und schließlich zur Familientherapeutin nach Bert Hellinger weiter – als solche lebt und arbeitet sie heute wieder in der Türkei. „Im Internat in Benefeld ging es kein bisschen elitär zu, es gab Kinder aus allen möglichen Herkunftsländern und auch sozial war da eine wilde Mischung, da auch Schüler vom Sozialamt dorthin geschickt wurden“, erinnert sich Idil an ihre Schulzeit. „Erst viel später wurde mir klar, wie wenig Bedeutung meine Herkunft dort hatte. Ganz anders als in meinem Erwachsenenleben, wo sie bis heute permanent eine Rolle spielt.“

Später zogen Mutter und Tochter nach Berlin, Idil besuchte ein Jahr lang die Waldorfschule im Märkischen Viertel, dann noch kurz die in Zehlendorf – und brach die Schule ab. „Ich war in dem Alter nicht mehr zu halten, ich hatte wohl einfach zu viel Energie, ich wollte arbeiten, ganz viel erleben“, meint sie. Zehn Jahre später hat sie ihr Abitur doch noch abgelegt und dabei auch den Kontrast zum Waldorfschul-System erlebt. „Die Waldorfschule ist ein grundlegender Baustein meiner Sozialisation und meines jetzigen Erfolges. Man kriegt dort eine künstlerische Grundausbildung – da sind die Sprachübungen jeden Morgen, die Monatsfeiern, wir wurden von Medien ferngehalten. Es war ein Platz, an dem ich gelernt habe, mich selbst auszudrücken.“

Alles eine Frage der Herkunft?

In Berlin tritt dann für Idil selbst überraschend und vehement die Frage ihrer Herkunft in den Mittelpunkt: „Natürlich gab es schon vorher Fragen nach meinem Namen: Idil, das ist ja kein deutscher Name, wo kommst du denn her? Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich meinen Platz gefunden habe.“ Es folgen stürmische Jahre der Identitätssuche, mit vielen Aufs und Abs. „Ich war sehr wild und wohl auch ein bisschen dumm – und ich hatte keine Vision für meine Zukunft“, meint sie rückblickend. Sie macht bittere Erfahrungen, etwa auf dem Arbeitsamt, wo man sie zu einem Türkisch sprechenden Berater schickte, obwohl sie selbst gar kein Türkisch spricht. „Das war eine zentrale Erfahrung: Ich werde nicht erkannt“, unterstreicht Idil Baydar mit Nachdruck. „Ich spreche die deutsche Sprache, ich engagiere mich in demokratischen Projekten. Was soll ich denn noch tun? Und wenn selbst jemand mit meiner Sozialisation diese Probleme hat – wie geht es dann erst anderen?“

Ihre Versuche, als Schauspielerin Fuß zu fassen, scheitern. „Ich wollte gerne künstlerisch tätig sein, mich ausdrücken. Aber was meinst du, welche Rollenangebote jemand mit meinem phänotypischen Aussehen erhält? Ich hatte die Wahl zwischen Putzfrau oder Prostituierter!“ Die Geburt der pöbelnden Jilet Ayse haben wir wiederum Idils Mutter zu verdanken: „Meine Mutter hat mir ordentlich Druck gemacht. Ich habe ihr damals die Ohren voll gejammert, dass ich so erfolglos bin und nichts klappt und alles die anderen Schuld sind … Ich habe damals als Integrationsbegleiterin an Schulen gearbeitet, und sie hatte mitbekommen, wie ich am Telefon mit meinen Freundinnen diesen ganz Sprachduktus der Jugendlichen nachgeahmt habe. Wir haben uns dabei kaputtgelacht. Und da hat meine Mutter gesagt: Komm, wir nehmen das auf und stellen das auf YouTube. Ich habe gedacht, na gut, soll sie doch sehen, das bringt eh nix!“

Zehntausende Klicks für Jilet

Quasi über Nacht kam dann die Überraschung: Schon nach wenigen Tagen hatte ihr Video Zehntausende Klicks, Jilets Erfolgsgeschichte kam ins Rollen und nahm schnell immer mehr Fahrt auf. So kam es schließlich zu der Entscheidung, „Berufstürkin“ zu werden – dem Versuch, sich mit der überzeichneten Jilet Ayse Gehör zu verschaffen: „Ich dachte mir: Okay, Ihr erkennt mich nicht, Ihr wollt euren Kanaken – dann kriegt Ihr ihn auch! Die Aufmerksamkeit kam erst, als ich mit Jilets Stimme gesprochen habe. Sie macht es möglich, dass auch Idil gesehen wird.“

Mittlerweile ist Idil Baydar als Jilet Ayse auch mit einem Bühnenprogramm unterwegs, nach „Deutschland, wir müssen reden!“ heißt ihre aktuelle Show nun „Ghettolektuell“. „Das ist etwas anders als die Sachen, die ich auf YouTube mache“, erklärt sie. „Im Netz muss ich schnell sein, aggressiv, laut – das würde auf der Bühne nicht funktionieren. Du kannst nicht 90 Minuten herumschreien! Also ist Jilet etwas ruhiger geworden.“  Das Publikum ist gemischt, oft sind rund die Hälfte der Zuschauer Migranten. „Das ergibt eine schöne Mischung. Allein die Tatsache, dass man an diesem Abend zusammen übereinander lacht, bricht vieles auf. Über das gemeinsame Lachen entsteht Verbundenheit“, freut sich die Künstlerin.

Die Themen gehen ihr jedenfalls nicht aus, allem voran natürlich ihr Lebensthema rund um Fragen der kulturellen Identität und Integration. Wie steht sie zu diesem Begriff? „Ich finde ihn sehr schwierig“, antwortet sie. „Der Ausdruck Integration war einmal gut gemeint und vielleicht auch ein guter Startpunkt, doch mittlerweile ist das Wort so negativ konnotiert, weil wir immer das Scheitern mitdenken. Ich würde mich freuen, wenn wir etwas anderes daraus machen könnten.“ Und Idils Bühnenfigur Jilet fragt zurecht: „Wann is denn eigentlisch mal vorbei mit diese Integration? Gibt ein Datum oder was? Wann is fertig?“

Kante zeigen, Vorbild sein

Auch die zugespitzte Diskussion über die Rolle des Islam in Deutschland beurteilt Idil Baydar kritisch: „Wir haben so viele strukturelle Probleme und so viel Ungerechtigkeit. Da ist die enorme Kluft zwischen Arm und Reich, der Alltagsrassismus – das alles sind ja keine Einzelfälle, das hat System. Und wir regen uns über Kopftücher auf!“ Den rauen Ton, der durch Leute wie Thilo Sarrazin salonfähig geworden und von Protagonisten der Neuen Rechten, etwa vonseiten der AfD vorangetrieben wird, macht sie wütend. „Wenn ich schon diese Frage höre, ob der Islam zu Deutschland gehört – zu Deutschland gehört Religionsfreiheit, damit ist doch alles gesagt!“

Trotz des wachsenden Erfolges liegt Idil auch ihr soziales Engagement weiterhin am Herzen. Seit einiger Zeit arbeitet sie mit der Initiative „Joblinge“ zusammen, einem Förderprogramm für sozial benachteiligte Jugendliche, viele davon aus Migrantenfamilien. „60 Prozent der deutschen Betriebe haben keine Migranten eingestellt, das will Joblinge mit einem individuellen Mentorenprogramm ändern“, berichtet sie. „Ich halte Vorträge vor den Jugendlichen, erzähle ihnen von meinen eigenen Erfahrungen und Rückschlägen und den tausend verrückten Jobs, die ich im Laufe der Zeit gemacht habe. Mir hat es geholfen, dass ich mich ausdrücken konnte. Und es hat es mir gut getan, anderen helfen zu können.“ Auch darin sieht sie ein Erbe ihrer Waldorfschulzeit: „Es ist wichtig, selbst zu denken, selbst mit anzupacken. Was will ich für diese Welt? Was kann ich tun? Glück bedeutet, auch etwas für andere zu tun.“ ///

Idil Baydar als Jilet Ayse: “Deutschland, wie müssen reden! // Ghettolektuell”
Tourdaten: Frankfurt, 15.09.; Augsburg, 24.09.; Duisburg, 01.10.; Hannover, 12.11.; Bremen, 27.11.2016

Über den Autor / die Autorin

Laura Krautkrämer

Info3-Redakteurin seit 2009. Verantwortet seit 2011 den wöchentlichen Newsletter Info3-Bewegungsmelder, der Nachrichten rund um Anthroposophie, Waldorfpädagogik und andere Praxisfelder zusammenstellt und kommentiert. Als freie PR-Texterin und -Beraterin ebenfalls im anthroposophischen Umfeld tätig.