Friedenspreis 2022 für Zerhij Zhadan aus Charkiv

Preisträger Serhij Zhadan. Foto: Silke Mondovits für info3

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ging in diesem Jahr an den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan. In seiner vom Krieg bedrohten Heimatstadt Charkiw organisiert er Hilfslieferungen für Zivilisten und Soldaten – ein Balanceakt zwischen Politik und Kultur.


„Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte“, hat der ukrainische Autor Serhij Zhadan einmal in einem Interview gesagt. „Vielleicht, weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt.“ In diesem Sinne riecht es auf vielen Seiten seines letzten großen Romans Internat verbrannt. Die Handlung spielt im Grenzgebiet des seit 2014 umkämpften Donbass. Zhadan erzählt von der dreitägigen Odyssee eines Lehrers, der seinen Neffen aus dem bedrohten Gebiet herausholen will. Sprachlich meisterhaft manifestiert Zhadan das Chaos dieser Kriegswinterszenerie, es sind eindringliche Situationen von Flucht, Gewalt und stiller Verzweiflung. Davon konnte man schon damals lesen, aber seit dem 24. Februar 2022 gewinnt das alles noch einmal an furchtbarer Aktualität.

Serhij Zhadan ist promovierter Sprachwissenschaftler, Rockmusiker und eben vor allem Autor. Geboren wurde er 1974 in einer Region der Ostukraine, die Russland vor kurzem gewaltsam annektiert hat. Sein bisher letztes Buch, Himmel über Charkiv, dokumentiert in Art eines Tagebuchs die Vorgänge in seiner umkämpften Heimatstadt nahe der Grenze zu Russland. Es geht um bombardierte Universitätsgebäude, Schulkinder bei Luftalarm in der Metro und gestorbene Freunde an der Front. Zhadan engagiert sich mit großem persönlichen Einsatz in Stadt und Region, er organisiert humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung, bringt aber auch Ausrüstung an die Front. Bei Konzerten sammelt er Geld, das er in Drohnen oder Geländewagen anlegt.

Seine Aufzeichnungen sind ursprünglich Facebook-Postings, mit denen Zhadan seinen Landsleuten unermüdlich Mut zuspricht, auch wenn gerade in den ersten Tagen des Angriffskriegs kaum Hoffnung bestand, dass es für die Ukraine anders als mit Vernichtung ausgehen könnte. In Himmel über Charkiv jedoch vollzieht man Tag für Tag mit, wie ein Krieg, der laut Putin nicht so heißen darf, gegen ein Land, das es laut Putin gar nicht gibt, genau das befördert, was von ihm bekämpft werden soll: eine selbstbewusste Ukraine. „Es entsteht ein völlig anderes Land – stark, stolz und außergewöhnlich menschlich“, schreibt Zhadan am 28. März 2022 und beendet seinen Eintrag, wie so oft, mit dem Satz: „Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher.“

Zhadan ist jetzt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Wie passt das zu einem Autor, der sich so für den Kampf seines Landes engagiert? Auf der Frankfurter Buchmesse auf diese Frage angesprochen, äußert Zhadan durchaus Verständnis dafür, dass die Menschen im Westen seine Haltung nicht ganz nachvollziehen können. Tatsächlich will es in der gepflegten Atmosphäre der Buchmesse nur schwer zusammenpassen, dass dieser sympathisch-freundliche und sprachlich so gewandte Zeitgenosse von einer lebensbedrohlichen Lage in seiner Heimat sprechen muss. „Wenn man vor sich auf der Straße einen bekannten Menschen liegen sieht, der durch eine russische Rakete getötet wurde, dann ist es ganz schwierig, politisch korrekte Worte dafür zu gebrauchen“, sagt Zhadan. „Ich glaube nicht, dass sich die Ukrainer heute für ihre Emotionen entschuldigen müssen.“ Gleichzeitig ist er sich der Gefahr einer ideologischen Literatur, die mit den Emotionen des Publikums spielt, durchaus bewusst. Wenn die Sprache auf Russland kommt, bleibt er jedenfalls stets sachlich und ruhig, kein aggressiver Ton schleicht sich ein, trotz des Kriegszustandes.

„Wir ukrainischen Schriftsteller sind hier in Frankfurt und müssen über den Krieg sprechen und nicht über Literatur. Das ist schade“, sagt Zhadan. Und freut sich doch darüber, dass wegen der Weltlage das Interesse an ukrainischer Literatur so groß ist wie nie. „Die Kultur darf zum Krieg nicht schweigen“, ist er überzeugt. „Wenn die Schriftsteller zum Krieg schweigen, bedeutet das, dass die Angst gewonnen hat. Die Sprache ist die Überwindung der Angst.“ ///

Ein Text aus der Ausgabe November 2022 der Zeitschrift info3. Probeheft hier bestellen.

Serhij Zadans Bücher Die Erfindung des Jazz im Donbass, Internat und Himmel über Charkiw sind auch im Buchshop des Info3 Verlags erhältlich, für Abonnent:innen unserer Zeitschrift versandkostenfrei in Deutschland.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.