Beuys Erben

Das Aufmacherbild zu diesem Artikel zeigt unser Buch zum Geburtstag: Der Beuys-Band in der Reihe "Kunst sehen"

„Jeder Mensch kann ein Künstler sein“, sagte Novalis. Gute Performancekünstler*innen sind es immer schon. Ausgehend von Beuys lässt sich zeigen, was Lebenskunst ausmacht, warum Performer*innen Statthalter des Menschlichen sind und wie jeder Mensch sich von ihnen eine Scheibe abschneiden kann – rein metaphorisch natürlich.

Für die documenta 7 ließ Beuys in Kassel 7000 Basaltstelen vor dem Fridericianum aufschütten, die für jeweils 500 D-Mark gekauft und neben einem eigens gepflanzten Baum im Kasseler Stadtbild verewigt werden konnten. Es dauerte fünf Jahre bis die Steine und Bäume alle gesetzt waren. Beuys wurde politisch, sozial und finanziell alles abverlangt, um diese Performance zu einem guten Ende zu führen.

Wie wollen wir leben? Welche Symbole lassen sich dafür finden? Wie sind Kunst und Stadtpolitik verbunden? Sollte Kunst im öffentlichen Raum stattfinden? Sind wir Menschen organische Wesen und Ideenwesen zugleich? Über dem gesamten Prozess des Kunstwerkes schwebten diese Fragestellungen, die sehr grundsätzlicher Natur sind und etwas darüber verraten, was gelingende Kunst und kunstvolles Menschsein ausmachen.

Jeder Künstler ist ein Mensch

Beuys forderte einen „erweiterten Kunstbegriff“. Jeder Mensch trägt ein schöpferisches Potential in sich, das ihn zum Künstler werden lassen kann, der an einer „sozialen Plastik“ mitformen könnte. Soweit, so bekannt. Über den Menschen heißt es bei ihm: „Er ist ein Künstler, ob er nun bei der Müllabfuhr ist, Krankenpfleger, Arzt, Ingenieur oder Landwirt.“ Freilich: So beliebig das Zitat oft ausgelegt wurde, ist es nicht gemeint. Eher so: „Jeder Mensch ist ein Kreativer, das heißt in jedem Menschen kommt etwas heraus von einem Ursprünglichen, von einem Schöpferischen“, verdeutlichte Beuys in einer Diskussion 1970. Nun würde ich sagen: Ein kreativer Mensch erfüllt zwar die Grundbedingung zum Künstlersein, aber noch nicht die hinreichende Bedingung. Diejenigen, die in jedem Sinne Künstler und eben auch Lebenskünstler genannt werden dürfen, sind Performancekünstler.

Der bildende Künstler, der Musiker, die Kunsthandwerkerin – sie alle eint, dass sie intentional gestaltend etwas ausdrücken beziehungsweise darstellen. Performancekünstler machen sich darüberhinaus in der Performance selbst zum Kunstwerk, Künstler*in und Darsteller*in werden eins und auch der Inhalt der Performance spiegelt sich im Performenden. Die Vermittlung über materiale Werke ist nicht nötig, sie stellen grundsätzlich dar, was sie sind. Dadurch bilden sie einen Spiegel der Welt-Verhältnisse, wie sie im Menschen zusammenlaufen. Beuys‘ gesamtes Agieren von der Idee bis zur konfliktreichen Realisation von 7000 Eichen ist die genievolle soziale Plastik, die eigentliche Kunstperformance, zu der auch die Eichen und Steine gehören. Performancekünstler*innen erproben praktisch und unmittelbar an sich selbst, was es heißt, Mensch zu sein. Aus diesem Grund nenne ich Performancekünstler*innen auch Experimentierende in Sachen Subjektivität. Jeder Künstler und jede Künstlerin ist in besonderer Weise Mensch. Sie machen das menschliche Leben zum Material der Kunst und sind daher qua Beruf Lebenskünstler*innen. Indem sie das tun, zeigen sie nur besonders deutlich, was alle Künstler*innen tun, nur dass es bei diesen nicht immer so pur ersichtlich ist.

Der erweiterte Performance-Begriff

Bei Performance Künstler*innen, die sogenannte erweiterte Performances (expanded performances) darstellen, ist dies noch augenscheinlicher der Fall, weil sie ihr ganzes Leben oder zumindest wichtige Teile davon zeitlich als Kunstwerk zelebrieren. Beuys‘ 7000 Eichen dauerte fünf Jahre bis zur kompletten Verpflanzung – und ist noch heute jeden Tag mitwachsender Begeisterung in Kassel zu erleben. Das Werk verlangte Beuys alles ab, auch finanziell: Er machte unter anderem Whiskeywerbung, für die er 400.000 D-Mark bekam, um die Performance zu finanzieren. Auch sonst begab er sich mit Hut und Haar in seine Werke hinein: „100 Tage auf der documenta reden, sich in Filz einwickeln, stundenlang auf einem Fleck stehen, mit einem Kojoten zusammenleben, Leuten die Füße waschen, Gelatine von der Wand nehmen, den Wald fegen, dem toten Hasen die Bilder erklären, eine Partei der Tiere gründen und das Messer verbinden, als er sich in den Finger geschnitten hatte“, schreibt sein Biograph Heiner Stachelhaus. Entscheidend ist, dass diese Aktionen in besonders intensiver Weise zur Reflexion darüber anregten, was es hieß, Mensch in dieser Zeit zu sein. Wenn ich mir morgens mein Brot toaste, ohne eine Konstellation zu schaffen, die das Ganze und seine Reflexion herausfordert und ohne ein Publikum zu haben (und sei es mein eigenes schöpferisches Ich), stellt sich diese Frage gar nicht. „Er tat in Wahrheit immer das Andere, immer das was scheinbar abwegig war“, resümiert Stachelhaus das Reflexionsrezept von Beuys. Somit steht Beuys‘ Kunst in der Tradition der antiken Kyniker, die das Ganze oft mittels des Gegenteils aufscheinen ließen. Diogenes ging ins Theater als alle wieder herauskamen, er lief barfuß, wo die anderen beschuht waren, er hielt Fische in die Höhe, wenn ein Politiker eine Rede hielt.

Qualitativ oder zeitlich ausgedehnte erweiterte Performances finden sich auch abseits von Diogenes und Beuys: Gilbert und George ließen sich als lebendige Skulpturen ausstellen, Timm Ulrichs zeigte sich bereits 1965 in einem Glaskasten als lebendes Kunstwerk. Res Ingold führt eine besondere Airline im Rahmen eines Performance-Langzeitprojekts, die noch auf ihren ersten Flug wartet. Der ungarische Künstler Endre Tót stellte sein ganzes Verhalten unter das Motto „gladness“ (Frohsinn): Andauernd und überall demonstrierte er die Bestätigung dieser Lebensfreude: auf der Straße in Budapest oder Warschau, auf Plakaten und Transparenten. Und natürlich Marina Abramović, die Koryphäe der Performance-Gattung, die ihren Körper martialisch zum Material machte und in ihren langen, mittlerweile mehr auf Askese setzenden Performances neue Maßstäbe saß beziehungsweise setzte.

Einen echten Beuys machen

Ist also jeder Mensch ein Künstler? Noch nicht. Jeder Mensch ist kunstfähig, wie schon Novalis sagte, aber er kann von den Performance-Künstlern lernen, was es heißt, sich selbst darzustellen und zum Lebenskunstwerk zu werden.

Mit der Kunst verhält es sich etwa wie mit der Unterscheidung von Breiten- und Spitzensport: Jeder Mensch kann Sport treiben, professionell tun dies jedoch nur wenige, ihre sportlichen Leistungen sind astronomisch auf der Erscheinungsebene. Bei der Kunst ist es analog: Ein jeder kann seinen Alltag zur Kunst werden lassen, wenn Intention und Werk das ganze menschliche Leben ästhetisch problematisieren, aber ein Mensch, der genau das zu seinem Lebensinhalt gemacht hat, wird meist tiefer gehen und dabei so manche wunde und wunderbare Punkte treffen. Aber das bedeutet mehr, als einfach die menschliche Kreativität in einem sehr rudimentären Sinn zu nutzen: Stelle ich durch meine geistigen oder materiellen Erzeugnisse nur ein weiteres Rädchen im Gesamtorganismus der Welt her, ist das noch keine Kunst. Der von Beuys herangezogene Müllmann ist kein Künstler: Weder wenn er einfach seiner Arbeit nachgeht, noch wenn er die Tonne auf eine originelle Art entleert. Wenn darin sowohl von der Intention als auch von der praktisch-materialen Konstellation her das Ganze oder große Teile der Welt sinnfällig zugespitzt sind, können hingegen auch alltägliche oder technische Praktiken zur Kunst werden. Das kann auch ein Müllmann schaffen, aber er hat es systemisch bedingt viel schwerer als ein mit Muße begünstigter Mensch. Der Müllmann verrichtet seine Arbeit vor einem geradezu kunstfeindlichen Hintergrund: Mache das Nötige schnell, effizient und ohne Rest – denke nicht nach, verschwinde geschwind, sorge für die Entsorgungsprobleme der Menschen. Ein Rest Kreativität wird auch an dieser Stelle nie verschwinden, aber der Müllmann hat gleich mehrere Handicaps, diese Kreativität zur Kunst zu erheben. Gestalten wie Hundertwasser und Beuys ist es bisweilen gelungen, einfache Handarbeiter*innen mit Freiräumen für eigene Gestaltung und Muße zu betrauen. Das lässt systemisch hoffen, aber auch im Kleinen können alle für sich enthusiastische Breitenkünstler werden: Jeder Mensch kann sich üben, Kunst zu schaffen oder selbst zu werden, indem Wesentliches für Welt und Mensch ästhetisch zugespitzt zur Darstellung gebracht wird. Filmt der Müllmann seine morgendliche Runde mit versteckter Kamera, lenkt er dabei den Blick auf sonderbare Müllobjekte, womöglich in einer reichen Villengegend und kommentiert auf seine Weise das Geschehen, ist die Nähe zur Kunst greifbar. So besehen kann sich wohl jeder und jede einen echten Beuys zulegen, eine persönliche Aktualisierung von dessen im Hintergrund weiterglimmender Intention, jeden Menschen zum Künstler zu befreien. Die entscheidende Frage dabei bleibt nicht nur für den Müllmann: Ist das (bin ich) Kunst, oder kann das (kann ich) weg? ///

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 4/2021 der Zeitschrift info3 “Das Leben – ein Kunstwerk. 100 Jahre Joseph Beuys”.

Ebenfalls in unserem Verlag erhältlich: Joseph Beuys. Band 14 der Reihe “Kunst sehen” von Michael Bockemühl.

Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.