Aktive Sterbehilfe: Autonomie ist nicht alles

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Das Karlsruher Urteil zur Erlaubnis der gewerblichen Sterbehilfe in Deutschland hat ein großes Echo ausgelöst. Vordergründig ist dem Ruf nach Autonomie kaum zu widersprechen. Die Wirklichkeit des Sterbens in Deutschland sieht aber vielfach ganz anders aus. Ein leidenschaftlicher Einwurf aus der Praxis der Sterbebegleitung.

Von Hans Bartosch

Seit 25 Jahren bin ich nun Krankenhauspfarrer; das erklärt manches, auch an meiner Emotion, mit der ich das Karlsruher Urteil gegen das verbot organisierter Sterbehilfe entgegengenommen habe. Menschen beim Sterben zu begleiten gehört zu meiner täglichen Erfahrung.

Was mich regelrecht verstört in vielen zustimmenden Kommentaren zu dem Karlsruher Urteil, ist die Unterkomplexität, immer nur vorrangig das Autonomie-Argument hochzuhalten, gar ein „Hochamt der Autonomie“ im Karlsruher Urteil zur sogenannten Sterbehilfe  zu feiern, wie es Heinrich Wefing in der „Zeit“ tat.

Streiten wir, so meine Bitte, aber jetzt nicht philosophisch und juristisch, sondern schauen wir phänomenologisch:

Wo und wie geschieht denn Sterben in Deutschland? Sind die, im relativen Verhältnis, wenigen radikal Autonomie-Fordernden, die bislang nur in der Schweiz oder Holland ihren Ausweg sehen, das wirkliche Kern-Problem?

Sterben in Deutschland ist, pardon meiner protestantischen Sprache, allermeist  ein elend langweilig verborgenes Ding. Meist sterben nämlich hochbetagte und immer öfter demenzerkrankte Menschen.

Von den nicht-demenz-erkrankten Hochaltrigen beten durchaus viele abends um Erlösung, um am nächsten Morgen denn doch verblüffend gerne und strahlend ihren Kaffee einzufordern.

Das Ding mit dem Sterben ist tüchtig komplex.

Dann, neben den Hochaltrigen (take care for ageism!), haben wir in exponentieller Zahl Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen, von Geburt an oder durch erworbene Erkrankungen. Vor 20 oder gar 50 Jahren wären die meisten von ihnen längst tot. Was vor 80 Jahren war, wissen wir.

Gut, und wir haben die schon öffentlich deutlich bekannteren Tumor-Erkrankten, oft viel zu jung. Aber die halten sich überwiegend an dem berühmten Lebensfaden fest.

Was mich oft sehr beeindruckt.

Und dann die Unfallopfer, deren Familien wirklich alles geben würden gegen die Härte des Todes.

Ja, und schließlich  gibt es da noch eine weitere nicht geringe Gruppe von Sterbenden: nämlich die wirklich real sich Suizidierenden, oft mit elend langen Phasen einer chronisch gewordenen Depression davor.

Ganz zum Schluss, gibt es jene – Pardon, das ist jetzt emotional – Autonomie massiv Einfordernden, die es mit allen Fasern nicht aushalten, dass sie abhängig werden könnten.

Seit Jahrzehnten dominiert in den Medien – ich bleibe emotional – die Nummer mit dieser narzisstischen Betrachtung des Sterbethemas. Weil, logisch, 93 Prozent der auf der Einkaufsstraße Befragten spontan sagen, „nie an Schläuchen verenden zu wollen“. Logisch, ich doch auch nicht.

Ich will jetzt nicht mit tollen Hospiz-Palliativ-Altenheimgeschichten kommen, die es durchaus vielfältig gibt. Nein, Sterben ist nicht immer schön. Logisch!

Keiner meiner Kollegen (sorry, stimmt leider nur zu drei Vierteln!) predigt mehr herum, dass man Gott gehorchen und daher nicht „ihm“ ins Handwerk pfuschen dürfe.

Vollends: Meine ärztlichen Kolleg*innen sind (ja, ich gestehe, nicht durch die Bank, aber unglaublich viele!) oft genug Feinkünstler geworden, wo und wie sie am buchstäblichen Rad zu drehen haben auf den Intensivstationen und den internistischen oder geriatrischen Units. Und mit den Familien reden. Und die Qualen des Dürstens im Blick haben.

Ganz auf der Spitze: Eine aktuell politisch endlich(!) neu geförderte Pflege hat weit über Hospize hinaus Expertisen entwickelt, die letzten Lebenswochen bedeutend aushaltbarer zu gestalten.

Das ist alles noch nicht flächendeckend. Und es kann auch nie mit dem Anspruch auftreten, alle vollends überzeugen oder gar glücklich machen zu können. Aber es ist eine kulturelle Meisterleistung, voller Blut und Schweiß und Tränen von Hunderttausenden! Übrigens, darüber hinaus, auch noch mal Hunderttausende Ehrenamtliche haben da ihren Verdienst!

Ja, ich gehöre auch zu denen, die Angst haben vor der slippery slope aufgrund der sogenannten Sterbehilfe (in Wirklichkeit: Euthanasie – im niederländischen Sinne!) und vor einem neuen kapitalistischen Blick auf den Lebens-Wert.

Davor, vor der nicht unberechtigten Klage über Slope und Euthanasie, davor aber rufe ich geradezu händeringend die doch ansonsten so wahrlich klugen und um Wahrhaftigkeit bemühten Journalist*innen (das meine ich bitter un-ironisch, vielmehr: wertschätzend!)  unseres Landes auf: Guckt doch bitte genauer hin, wo und wie gestorben wird.

Und wie es mit den Demenzerkrankten steht – und! – was das ganze Sterbegerede mit den Depressionserkrankten macht (wozu es reihenweise Studien aus der Psychiatrie gibt). Beide Gruppen sind so unendlich viel größer als die radikal nach Autonomie Rufenden.

Hans Bartosch lebt in Magdeburg und arbeitet dort in der Seelsorge einer großen evangelischen Einrichtung. Er ist Autor des Buches: Was noch erzählt werden muss. Zeitgeschichte am Krankenbett.

Über den Autor / die Autorin

Redaktion info3

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